Nachhaltigkeit: “Ernährung braucht mehr Aufmerksamkeit”
Um das Ernährungssystem in Deutschland nachhaltiger zu gestalten, müssen neben Gesundheit die Bereiche Umwelt, Soziales und Tierwohl stärker berücksichtigt werden.
Im folgenden Interview geben Prof. Dr. Britta Renner, Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) und stellvertretende Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE) und Prof. Dr. Achim Spiller, Vorsitzender des WBAE und Mitglied in der Zukunftskommission Landwirtschaft Einblick in ihre interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Herausforderungen, das Ernährungssystem Deutschland nachhaltiger zu gestalten.
Prof. Dr. Achim Spiller
„Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte“ am Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung der Georg-August-Universität Göttingen. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE) und Mitglied in der Zukunftskommission Landwirtschaft.
DGEblog:
Frau Renner und Herr Spiller, was sind die Schwerpunkte in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?
Britta Renner:
Ich bin Psychologin und an der Universität Konstanz tätig, wo ich den Lehrstuhl für psychologische Diagnostik und Gesundheitspsychologie inne habe. Unser Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Ernährungsverhalten. Wir sind sehr interdisziplinär, arbeiten beispielsweise auch mit Computerwissenschaftlern zusammen. Dort entwickeln wir u. a. Apps, die eine Verhaltensänderung unterstützen.
Wir sind dabei vornehmlich dafür zuständig, was vor dem Mund passiert. Und alles, was nach dem Mund passiert, z. B. alle physiologischen Vorgänge, das ist nicht unser Fokus. Ernährung ist ein faszinierendes und hochkomplexes Verhalten. Wir sind übrigens das einzige Lebewesen, das freiwillig Essen gemeinsam teilt. Das macht sonst kein anderer Spezies. Dieses Verhalten beinhaltet ganz viele psychologische Faktoren.
Gab es für Sie persönlich einen Schlüsselmoment oder war das eher ein Prozess, bei dem Sie festgestellt haben, wie zentral das Thema Nachhaltigkeit ist?
Britta Renner:
Ich habe das tatsächlich als Prozess wahrgenommen. Aus den Gutachten, die der Beirat zum Thema Tierwohl, aber auch Klima, geschrieben hat, wurde bereits deutlich, dass es ein Querschnittsthema ist. Dass wir das von beiden Seiten her adressieren müssen, sowohl von der Angebotsseite als auch von der Konsumseite.
Achim Spiller:
Ja, das war bei mir ähnlich. Bereits die beiden Vorläufergutachten des Beirats waren sehr umfangreiche Gutachten. 2015 gab ein großes Gutachten zur Zukunft der Tierhaltung in Deutschland, mit einen starken Fokus auf Tierschutz und dann 2016 zum Klimaschutz. Der Beirat ist dann im Zuge der Umgestaltung des Ministeriums erweitert worden zu einem „Beirat für Agrar und Ernährungspolitik“. Damit sind neue Kolleginnen und Kollegen in den Beirat gekommen, auch aus den Ernährungswissenschaften. Das Gutachten aus 2020 baut auf diesen Vorläufern auf und versucht erstmals Ernährungspolitik als Politikfeld umfassend zu definieren. Zur Agrarpolitik gibt es schon ganz viele Gutachten. Das ist ein sehr ausdifferenzierte politisches Themenfeld. Zur Ernährungspolitik gab und gibt es wesentlich weniger.
Das ist vielleicht auch das Spannende an der Zusammensetzung des WBAE, dass wir die Wertschöpfungskette dort gewissermaßen in Persona sitzen haben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit Nutzpflanzen beschäftigen oder mit Nutztieren, bis hin zu Ernährungswissenschaftlern oder Frau Renner, als Psychologin. Insofern schlägt sich das dann natürlich auch im Gutachten nieder. Das spiegelt aber auch, was sich in der weltweiten Politik tut. Da wird unter dem Stichwort „Nutrition Related Agricultural Policy“ diskutiert. Agrarpolitik muss heute von der Ernährungsseite gedacht werden und nicht mehr vom Anbau.
Prof. Dr. Britta Renner
Prof. Dr. Britta Renner, Fachbereich Psychologie, AG Psychologische Diagnostik und Gesundheitspsychologie, Universität Konstanz, Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) und stellvertretende Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE).
Achim Spiller:
Von meiner Ausbildung her bin ich Ökonom, Betriebswirt. Am Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung an der Georg-August-Universität Göttingen beschäftigen wir uns schwerpunktmäßig mit dem Konsumverhalten aus dem Blickwinkel des Marketings und der Verbraucherpolitik. Und ich bin seit 20 Jahren in Göttingen im Agrar-Marketing tätig. Das ist ein Bereich, der sich an der Schnittstelle mit der Landwirtschaft beschäftigt, deren Produkte am Schluss natürlich im Magen landen.
Weizen wird zum Beispiel über den Agrarhandel verkauft und kein Landwirt weiß dann mehr, wo sein Weizen später landet. Die Landwirtschaft produziert daher in Teilen für einen anonymen Weltmarkt. Aber zunehmend wird es auch für die Landwirtschaft interessant, sich näher damit zu beschäftigen, warum die Menschen ihre Produkte kaufen, warum sie vielleicht nachhaltig und regional einkaufen, warum Tierschutz den Menschen wichtiger wird. Auch setzen wir uns seit 15 Jahren zum Beispiel sehr intensiv mit dem Thema Tierschutz und der gesellschaftlichen Entwicklung von Werthaltungen und Einstellungen bei den Menschen auseinander.
Insofern haben Frau Renner und ich einige Überschneidungen bei den Methoden, die wir nutzen. Aber wir gucken vielleicht aus etwas unterschiedlichen Blickwinkeln darauf. Und das ist ja das Spannende an der Ernährungsforschung. Es ist ein interdisziplinäres Feld, das nur aus verschiedenen Blickwinkeln und gemeinsam zu verstehen ist.
DGEblog:
Sie sind im „Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE)“ tätig. Der Beirat arbeitet auf ehrenamtlicher Basis und berät das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) bei der Entwicklung seiner Politik in diesen Bereichen. Herr Spiller, Sie haben dort u. a. den Vorsitz inne und Frau Renner, Sie sind stellvertretende Vorsitzende beim WBAE und Vizepräsidenten der DGE. Im Juni 2021 hat die DGE das „Positionspapier zur nachhaltigeren Ernährung“ veröffentlicht.
Das orientiert sich an dem vom WBAE im August 2020 veröffentlichen Gutachten „Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten“. Darin sind die vier Ziel-Dimensionen benannt: Gesundheit, Tierwohl, Soziales und Umwelt.
Gab es für Sie persönlich einen Schlüsselmoment oder war das eher ein Prozess, bei dem Sie festgestellt haben, wie zentral das Thema Nachhaltigkeit ist?
DGEblog: Was bedeutet die Zielsetzung einer nachhaltigeren Ernährung für die Agrarwirtschaft?
Achim Spiller:
Die Agrarwissenschaften werden zukünftig sicherlich stärker die Ernährungsseite in den Blick nehmen. Daher ist auch Gesundheit nochmal stärker als Zielgröße definiert. Das rückt beispielsweise eine Branche wie die Zuckerwirtschaft stärker in den Fokus. Das ist ein wichtiges Standbein der deutschen Landwirtschaft. Mit Zucker und dem Zuckerrübenanbau wurde immer viel Geld verdient. Jetzt wird ein solches Produkt und eine ganze Wertschöpfungskette anders hinterfragt. Gerade wenn wir es von der Seite der Konsumenten aus denken und nicht aus einer reinen Produktionsperspektive.
DGEblog:
Der Begriff „Ernährungsumgebung“ spielt eine große Rolle. Was genau ist darunter zu verstehen?
Britta Renner:
Also wenn ich diesen jetzt akademisch definieren würde, dann umfasst die „Ernährungsumgebung“ alle Faktoren in unserer Umgebung und Umwelt, die unser Ernährungsverhalten beeinflussen. Es ist tatsächlich ein sehr breiter Begriff. Wenn Sie in die Wissenschaft reinschauen, aber auch bei verschiedenen Institutionen, wird der Begriff unterschiedlich angewendet. Zum Beispiel haben im Juni die Food Systems Summit 2021 stattgefunden. Da gibt es auch ein wissenschaftliches Begleitgremium, das die wissenschaftliche Evidenz zusammenfasst und Positionspapiere verfasst. Hier wird der Begriff Ernährungsumgebung enger definiert und umfasst die direkten Kontaktpunkte der Konsumentinnen und Konsumenten mit dem Ernährungssystem – also wenn sie beispielsweise Lebensmittel einkaufen oder konsumieren.
Wir haben im WBAE lange über den Begriff diskutiert und es war ein entsprechender Entwicklungsprozess. Wir fassen die Ernährungsumgebungen weiter und definieren diese über den Verhaltensprozess. Dieser umfasst vier Phasen: von der Exposition, dem Zugang, der Auswahl bis hin zum Konsum. Das heißt, auch wenn wir „offline“ sind, also nicht im direkten Kontakt mit dem Ernährungssystem sind – d.h. nicht gerade Lebensmittel einkaufen oder konsumieren, auch dann gibt es Umwelteinflüsse, die Lernprozesse anschieben und uns prägen. Und das beginnt schon an bei der Exposition.
Exposition umfasst dabei alles, was sie in ihrer Umgebung sehen bzw. wahrnehmen, was etwas mit Ernährung zu tun hat. Sie müssen dabei gar nicht am Essen interessiert sein oder beim Einkaufen sein. Denken Sie beispielsweise an Fußballspiele. Da wird Ihnen verschiedenste Werbung gezeigt. Obwohl Sie in dem Moment vielleicht gar nicht an Essen interessiert sind, lernen Sie hier durch die Exposition dennoch bereits gewisse Assoziationen zwischen Produkten und Personen, Emotionen und Ergebnissen. Ich glaube, wenn wir jetzt Personen fragen würden, welche Lebensmittel sie mit Fußballspielen assoziieren, dann wird wahrscheinlich nicht „Salat“ als erstes genannt, sondern andere Lebensmittel und Produkte. Das sind implizite Lernprozesse, die unser Essverhalten prägen.
Unsere Ernährungsumgebung ist insgesamt sehr wirkmächtig, auch weil viele Prozesse für uns „nebenher“, gewissermaßen unter unserem Radar, ablaufen.
DGEblog:
In dem WBAE-Gutachten heißt es an einer Stelle, dass die Ernährungsumgebung ein bisher unterschätzter Einflussfaktor ist. Was meinen Sie damit?
Britta Renner:
Was uns in der Ernährungsumgebung beispielsweise zur Verfügung steht, prägt enorm unsere Handlungsmöglichkeiten. Wir haben das auch im Zusammenhang mit der Kita- und Schulverpflegung diskutiert. Wir ermöglichen in manchen Unterrichtsfächern Bildung zur gesundheitsfördernden Ernährung. Und dann schicken wir die Kinder in eine Mensa, die nicht so ansprechend ist und das Essen ist vielleicht auch nicht von einer Qualität, wie gewünscht. Dann haben wir da eine klare Dissonanz. Dann kann es auch mit der Bildung nicht so richtig klappen.
DGE-Qualitätsstandards
Kriterien für eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Verpflegung in Gemeinschaftseinrichtungen bieten die fünf DGE-Qualitätsstandards.
Diese unterstützen Verantwortliche in Kindertagesseinrichtungen, Schulen, Betrieben, Krankenhäusern und Rehakliniken, Senioreneinrichtungen sowie Mitarbeiter:innen von „Essen auf Rädern“ bei dem Angebot einer ausgewogenen Verpflegung.
Das heißt, wir müssen uns auch die Umgebung anschauen. Daher plädieren wir dafür, dass z. B. die Kita- und Schulverpflegung nach den DGE-Qualitätsstandards angeboten wird. Da haben wir im Beirat z. B. das Top-Mensa-Programm vorgeschlagen, damit wir auch Räumlichkeiten schaffen, wo die Kinder gerne hingehen möchten und nicht nur hinmüssen.
Achim Spiller:
Wir haben in Deutschland eine traditionell und kulturpolitisch stark verankerte Individualisierung der Ernährungsverantwortung. Dass zeigt sich gerade auch in Kita und Schule. Zum einem bei der lange Zeit dominierenden Form der Halbtagsschule und zum andern, dass es als Aufgabe der Familien verstanden wurde, für das Essen zu sorgen.
In der Schule gibt es ein Pausenbrot, das Mittagessen gibt es eigentlich dann hinterher zu Hause. Und genauso wie sich Deutschland als Nachzügler bei Schulentwicklung zeigte, steckt das gleiche kulturelle Muster dann auch in der starken Individualisierung der Ernährungsverantwortung. Es ist dann sozusagen ein individuelles Problem, wenn eine gesunde Ernährung nicht gelingt.
Dass es ausschließlich oder im Wesentlichen eine Aufgabe der Familien wäre, eine nachhaltige Ernährung sicherzustellen, überfordert vor dem Hintergrund, der von Frau Renner gerade beschriebenen Ernährungsumgebung.
Das führt dann zum Beispiel dazu, dass zwar jetzt Kindern aus Familien mit Transfereinkommen ein kostenloses Schulessen angeboten wird, aber im Schulalltag entwickeln sich dann Selektionsprozesse, die sozial diskriminierend wirken. Mensa ist dann für diejenigen, die es sich nicht erlauben können, vielleicht dann doch Fastfood oder zu Hause zu essen. Und dann bekommt Schulessen auch ein entsprechendes Image, dass es nur etwas für diejenigen ist, die dort essen müssen.
Das sind sehr unglückliche Verkettungen. Auch haben wir es politisch in den meisten Bundesländern immer noch nicht geschafft, dass es wenigstens verpflichtende Qualitätsstandards, wie z. B. die der DGE, gibt. Das Fehlen verbindlicher Qualitätsstandards in der Kindergemeinschaftsverpflegung, gibt es global fast nirgendwo mehr.
DGEblog:
Wie wichtig ist der interdisziplinäre Forschungsaustausch, um hier entsprechend Input zu geben?
Britta Renner:
Die Ernährungswissenschaft war eigentlich schon immer interdisziplinär. Auch wenn wir uns die DGE als Fachgesellschaft anschauen, dann ist das einzigartig, weil hier ganz unterschiedliche Disziplinen vertreten sind, ähnlich wie auch in dem Beirat des WBAE.
Ernährung ist ein sehr komplexes Phänomen und da wird es zukünftig sicherlich noch wichtiger, dass wir interdisziplinär Fragen beantworten.
DGEblog:
Auch das DGE-Positionspapier betrachtet Nachhaltigkeit unter den vier Zieldimension Gesundheit, Tierwohl, Soziales und Umwelt. Mit Fokus auf die Zieldimension Soziales: Ernährungsarmut ist u. a. ein Problemfeld, auf das die DGE in ihrem Nachhaltigkeitspapier verweist. Was muss hier passieren?
Britta Renner:
Da sprechen Sie einen Punkt an. Das haben wir natürlich im Beirat auch intensiv diskutiert. Man kann im Grunde genommen Dinge nur in Relation setzen und richtig einschätzen, wenn es auch eine solide Datengrundlage gibt. Und da haben wir an verschiedenen Stellen in der Forschung in Deutschland tatsächlich Defizite. Dazu gehören beispielsweise vulnerable Gruppen wie Personen im höheren Altersbereich und Haushalte mit geringeren Einkommen. Die sind teilweise schwerer zu erreichen. Da schauen wir im Moment noch nicht richtig hin.
Achim Spiller:
Auch ohne dass wir das jetzt wissenschaftlich sehr differenziert belegen könnten, deutet eine ganze Menge darauf hin, dass es tatsächlich auch ein armutsbedingtes Ernährungsproblem in Teilen der Gesellschaft gibt. Das haben wir uns auch intensiver bezüglich des Transfereinkommens von 5,20 Euro für Verpflegung angeschaut, das heute pro Tag in Hartz IV angesetzt ist.
Rein theoretisch könnten Sie sich damit vernünftig ernähren, wenn alles perfekt läuft. Aber wem gelingt das schon? Vielleicht in einer guten Ausgangsituation, mit genug Zeit. Dies bedeutet, von Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu verlangen, dass sie sich perfekt rational verhalten und sich daneben nichts gönnen können, was auch soziale Teilhabe bedeutet. Dann kann sich jeder ausrechnen, wie es gehen soll, sich mit 5,20 Euro am Tag zu ernähren. Das setzt voraus, quasi nur Sonderangebote einzukaufen, nur saisonales Gemüse und Obst. Für Menschen, die z. B. unter großem Stress stehen, weil sie vielleicht alleinerziehend sind und kleine Kinder haben, ist das unrealistisch.
Und das zeigt eben auch ein Stück weit, dass wir als Gesellschaft dem Bereich Ernährung nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet haben. Und deshalb glauben wir, dass Verpflegungssätze dringend neu und realistischer berechnet werden sollten.
DGEblog:
Wie steht es um die Dimension Tierwohl?
Achim Spiller:
Von Konsumenten-Seite sehen wir anhand von Studien, dass es ein Bedürfnis von vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern ist, sich nicht nur gesünder, sondern auch sozialverträglicher zu ernähren und auch stärker auf das Tierwohl zu achten. Dies ist im Einkaufsalltag allerdings schwierig. Wir schauen gerade einmal 200 Millisekunden auf ein Produkt und das hat auch gute Gründe, weil wir auch noch andere Dinge in unserem Alltag zu tun haben. Vor dem Hintergrund rechtlich nicht geschützter Tierwohlbezeichnungen und ca. 2000 Nachhaltigkeitslabeln ist es dann unglaublich schwer, nachhaltigere Lebensmittel zu identifizieren.
Und deshalb hat der Wissenschaftliche Beirat vorgeschlagen, eine Art Dach-Label zu entwickeln, graphisch ähnlich dem Nutri Score, die für Verbraucher und Verbraucherinnen leicht einzuordnen sind. Also nicht noch mehr Labels, sondern im Grunde eine überschaubarere Anzahl staatlich definierter Label, die wir gut und einfach tatsächlich in unserem Ernährungsalltag verarbeiten können. Das wäre wünschenswert.
Leider ist das geplante staatliche Tierschutz-Label gerade in Deutschland gescheitert. Das ist eine etwas deprimierende Entwicklung nach fünf Jahren Entwicklungsarbeit. Obwohl es im Koalitionsvertrag stand, ist es am Schluss nicht umgesetzt worden. Die Frage ist, ob eine neue Bundesregierung im Bereich der Label-Politik nochmal einen Neustart wagt, denn wir sehen, dass wir international zunehmend hinterherlaufen.
Britta Renner:
Im Beirat plädieren wir dafür, dass wir da zu einem Paradigmenwechsel kommen. Also wir müssen das konsequent von den Konsumentinnen und von den Konsumenten aus denken. Denn es liegt häufig nicht an fehlender Bildung, Wissen oder Motivation, um diese ganzen Labels zu verstehen, sondern das diese derzeit einfach nicht auf uns, unsere Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten angepasst sind. Auch wenn wir die Experimente und Befragungen von Konsumentinnen und Konsumenten betrachten, dann haben diese eine starke Präferenz für klare, einfache Labels, die eine klare und schnelle Orientierung geben.
DGEblog:
Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit ein Wechsel im Ernährungssystem gelingen kann?
Achim Spiller:
Wir brauchen diesen umfassenderen Ernährungsumgebungsansatz, wie ihn Frau Renner vorhin beschrieben hat. Und da gehören dann weitere Instrumente dazu. Zum Beispiel auch, dass die Preise mehr die tatsächlichen externen Kosten, die Umwelt- und Nachhaltigkeitskosten spiegeln. Und das heißt, dass der Gesetzgeber dann vielleicht auch beginnt, mit Steuern bestimmte Produkte, zum Beispiel Obst und Gemüse preiswerter zu machen und die Preise für tierische Produkte zu erhöhen, damit auch die Preise den Menschen eine Unterstützung in diese Richtung geben. Dieser umfassende Ernährungsumgebung-Ansatz, benötigt einen differenzierteren Politikansatz.
Britta Renner:
Das, was Achim Spiller gesagt hat, kann ich nur sehr unterstützen. Die Labels sind ein Baustein und wir brauchen aber einen Instrumenten Mix. Und dafür hat der Beirat insgesamt neun Themenfelder angesprochen und Empfehlungen dafür ausgesprochen, was wir adressieren müssen.
Wir haben ein Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung, weil Ernährung eben mehr als Gesundheit im engeren Sinne ist, sondern auch maßgeblich unser Wohlbefinden mitbestimmt und zentraler Teil unseres sozialen Lebens und Kultur ist. Unser Ernährungsverhalten ist nicht nur „pathologisch“ oder „krankmachend“, sondern hat vielfältige psychologische und soziale Funktionen. Wir brauchen deshalb eine über die Ministerien hinweg abgestimmte Strategie-Entwicklung.
DGEblog:
Verraten Sie uns zum Abschluss, was Ihr Lieblingsessen ist?
Britta Renner:
Also ich kann für mich sagen, dass das bei mir wechselt. Ich habe wirklich kein Lieblingsessen. Was ich als Konstante sagen kann, mir schmeckt es vor allen Dingen dann, wenn ich in guter Gesellschaft bin. Das ist für mich eigentlich ganz zentral.
Achim Spiller:
Ja, ich würde sagen, das ist bei mir der Sauerbraten. Das müssen die Erinnerungen aus meiner Kindheit sein, obwohl ich mich immer mehr hin zum Flexitarier entwickle.
DGEblog:
Haben Sie vielen Dank für das Interview.