Planetary Health Food unter Realitätsschock
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Die Freiheit, zu essen und zu trinken was und wann man will, ist ein junges Phänomen: Von den antiken Kulturen bis ins 20. Jahrhundert waren es weniger Gesetze und Verordnungen, die bestimmt haben, was wann von wem gegessen werden darf, sondern eher gesellschaftliche Normen – ihre Einhaltung wurde innerhalb von Familie und Gesellschaft meist rigoros durchgesetzt. Allerdings ging es bei diesen soziokulturellen Ernährungsnormierungen weniger um den gesunden Körper oder den zufriedenen Geist, sondern um die Zementierung von Hierarchien, den Ausdruck von Status oder um die Durchsetzung religiöser Ordnungen.
Die Verankerung demokratischer Sozialstrukturen und der Zuwachs an Wohlstand führten zu einem fundamentalen Paradigmenwechsel: Nicht nur (West-)Deutschland, auch die Nachbarländererfasste in den prosperierenden 1950er Jahren eine „Fresswelle“ – nach den entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahren nahmen die Menschen bald mehr Nahrung zu sich, als sie brauchten.
Inzwischen ist ungefähr die Hälfte der Deutschen übergewichtig, knapp ein Fünftel sogar adipös. Das muss Wissenschaft und Politik gleichermaßen auf den Plan rufen – nicht zuletzt, weil die gesellschaftlichen Folgekosten der Fehlernährung sich allein in Deutschland auf ungefähr 17 Milliarden Euro jährlich belaufen. Fehl- und Überkonsum sind in Bezug auf Ursachen und Struktur vielschichtig: Dauer-Snacking statt Mahlzeiten und Nahrungsaufnahme aus Frustration, Trauer oder Langeweile stellen dabei relevante Faktoren dar.
In der Gesellschaft der Gegenwart bestimmen nicht mehr nur Herkunft, Klasse oder Schicht die Position des Individuums – wiewohl sich klassenspezifische Ungleichheiten im globalen Norden und Süden aktuell wieder verschärfen –, sondern auch selbstgewählte Lebensstile.
In der Gesellschaft der Gegenwart bestimmen nicht mehr nur Herkunft, Klasse oder Schicht die Position des Individuums – wiewohl sich klassenspezifische Ungleichheiten im globalen Norden und Süden aktuell wieder verschärfen –, sondern auch selbstgewählte Lebensstile.
Ernährungsbildung in der Zwickmühle
Während die Ernährungsbildung des 21. Jahrhunderts Menschen dazu befähigen soll, ihr Essen und Trinken verantwortungsbewusst, selbstbestimmt und reflektiert zu gestalten, dominierten bis weit ins 20. Jahrhundert Imperative und Unterweisungen – kulturelle Normen, Staaten und Kirche gaben einen Zielkorridor vor, aus dem es kaum ein Entrinnen gab.
Hinzu kam die normative Kraft des Faktischen: Über weite Strecken der Frühneuzeit (1500–1800) herrschte fast permanente Energieunterversorgung, Getreideprodukte deckten über die Hälfte des Nährstoffbedarfs – darüber hinaus bedurfte es keiner Belehrung. Auch die Staaten des 19. Jahrhunderts – das strenge Preußen oder ab 1871 das Kaiserreich mit seinen drakonischen Erziehungsmethoden und der Militarisierung – konnten Normen aufstellen oder Steuern erheben, wie sie wollten; was Vater Staat oder das männliche Familienoberhaupt befahlen, war Gesetz.
Heute ist die Freiheit, die eigene Ernährung nach Belieben zu gestalten, nahezu grenzenlos und Lebensmittel sind, gemessen am Einkommen, günstig wie nie. Altersbegrenzungen gibt es nur bei der Abgabe alkoholischer Getränke, und Staat, Bundesländer oder Institutionen haben keine Handhabe, individuellen Konsum zu limitieren.
Wo kulturelle oder soziale Normen Überkonsum zu hemmen suchen, kann sich das Individuum in die Nischen des privaten oder öffentlichen Raums zurückziehen und jene Einschränkungen unterlaufen: Das gilt beispielsweise für Verbote, die Eltern gegenüber ihren Kindern aussprechen, aber auch für religiöse Fastengebote oder ärztliche Empfehlungen.
Ernährungsimperative: vom Staatszwang zur Selbstverpflichtung
Staatliche Ernährungsimperative, also politische Maßnahmen, Richtlinien oder Vorgaben zur Beeinflussung des Ernährungsverhaltens der Bevölkerung, blicken in den europäischen Gesellschaften auf eine lange Geschichte zurück: In der Vormoderne (ca. 5. bis 18. Jahrhundert) waren sie zentrales Element der Sozialdisziplinierung.
Brachte das 19. Jahrhundert breite Lockerungen, indem nun beispielsweise auch Frauen und insbesondere Fabrikarbeiterinnen der Konsum von Alkohol erlaubt wurde, führten sowohl der Nationalsozialismus, etwa durch das Verbot jüdischer Speiseregeln, als auch das Sowjetsystem, etwa durch ein rigides Nahrungszwangssystem, im 20. Jahrhundert neue Restriktionen ein.
Die modernen Gesellschaften haben ihre Verbotspolitik aufgegeben und setzen auf differenzierte und partizipative Informationsangebote: Je mehr Freiheit der Staat dem Individuum gewährt, desto stärker schreiten diese Individuen gemäß ihren gewählten Lebensstilen zu selbst gewählten Beschränkungen, etwa durch nachhaltigkeitsfokussierte, vegane oder fitnessorientierte Ernährung.
Die modernen Gesellschaften haben ihre Verbotspolitik aufgegeben und setzen auf differenzierte und partizipative Informationsangebote: Je mehr Freiheit der Staat dem Individuum gewährt, desto stärker schreiten diese Individuen gemäß ihren gewählten Lebensstilen zu selbst gewählten Beschränkungen, etwa durch nachhaltigkeitsfokussierte, vegane oder fitnessorientierte Ernährung.
Diese Ernährungsszenen folgen teils strengen Regeln, die offenbar höhere Wirkmacht besitzen als die Empfehlungen der DGE. Nicht genau fixierte und meist über Social Media verstärkte Imperative diverser Ernährungsszenen stiften Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Zwischen jenen Szenen und der institutionalisierten Ernährungsbildung, also der systematischen, informelle Bildungsinstitutionen eingebetteten Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten rund um den Bereich der Ernährung, gibt es gleichwohl Kommunikation, Akzeptanz und Schnittmengen.
Das Ziel einer Planetary Health Diet, 2019 auf Grundlage der EAT-Lancet-Kommission vorgestellt, wird weitgehend konsensuell akzeptiert: Eine wissenschaftliche Grundlage für einen Wandel des globalen Ernährungssystems zu schaffen und einen Speiseplan zu entwickeln, der die Gesundheit des Menschen und des Planeten gleichermaßen schützt.
Wer kann sich dem versperren? Eigentlich niemand. Und doch sieht die Gegenwart anders aus: Nicht nur der Vormarsch der gesamten Planetary Health Diet steht unter Druck, sondern auch hierzu zählende einzelne Lebensmittel sehen sich mit einem Realitätsschock konfrontiert.
Gesellschaftliche Transformation blockiert Ernährungswende
Was hindert also an der Durchsetzung der sinnvollen Ernährungspläne? Zunächst Verhaltensmuster, die sich als systematische und strukturelle Apathie beschreiben lassen. Das betrifft auch Menschen, die sich mit der Planetary Health Diet identifizieren, aber im Alltag, im Beruf oder im Rahmen ihrer Mobilität kurzfristig Essentscheidungen treffen, die jenem Ideal zuwiderlaufen: Bahnhöfe, Snackmeilen oder die Orte der Gemeinschaftsverpflegung werden auf diese Weise zu Orten der Überschreitung internalisierter Regeln.
Während Ernährungswissen in der homogenen Mittelstandsgesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert noch niedrigschwellig zu vermitteln war, hat sich seit der Jahrtausendwende eine vielschichtige Lebensstilgesellschaft entwickelt, bei der verschiedenste Gruppen selbst Deutungshoheit über die vermeintlich richtige Ernährung beanspruchen. Die Gourmet- und Grillszene etwa akzeptierte Empfehlungen zu fleischreduzierter Ernährung nicht, sondern verunglimpfte sie eher.
Die Gourmet- und Grillszene etwa akzeptierte Empfehlungen zu fleischreduzierter Ernährung nicht, sondern verunglimpfte sie eher.
Inzwischen haben sich neue Strukturen entwickelt: Zunehmende Ungleichheitsverhältnisse durch soziale Polarisierung, ökonomische Entsicherung und die gesellschaftlichen Krisen der vergangenen Dekaden führen erneut zur Bildung ökonomisch determinierter Klassen (Graf et al. 2022).
Conclusio
Verschiedene gesellschaftliche Gruppen in einer stark segmentierten, dissonanten Gesellschaft – darunter Menschen mit Migrationshintergrund oder prekär Lebende, die mit Akkulturationsprozessen und psychosozialem Stress hadern, aber auch politisch radikalisierte Kreise – zeigen teils eine ablehnende oder gleichgültige Haltung gegenüber nachhaltigen Ernährungsweisen, die durch
multiple soziale, kulturelle und ökonomische Faktoren geprägt ist.
Die Gründe hierfür sind vielschichtig und in gewisser Weise partiell nachvollziehbar, aber angesichts des anthropogenen Klimawandels und seiner verheerenden Auswirkungen schwer akzeptierbar. Gleichwohl erleben in Europa oder auch global Diskurse eine Hochkonjunktur, die Nachhaltigkeitspolitiken zurück in eine Nische drängen. Die zunehmende Macht der sozialen Medien in der aktuellen Form verstärkt diesen Trend in einem bislang unbekannten Ausmaß.
Sind also Hopfen und Malz verloren? Natürlich nicht – denn die Planetary Health Diet ist das wichtigste Beispiel der notwendigen ökologischen Transformation und mithin zentrales Symbol von Fortschritt, der sich nicht aufhalten lässt.
Sind also Hopfen und Malz verloren? Natürlich nicht – denn die Planetary Health Diet ist das wichtigste Beispiel der notwendigen ökologischen Transformation und mithin zentrales Symbol von Fortschritt, der sich nicht aufhalten lässt. Und wenn man auf die Nachhaltigkeitsstrategien von besonderen Innovationsregionen und Nationen schaut wie Skandinavien, Singapur oder neue Akteure wie einige der Golfstaaten, so wird deutlich, dass sich die Planetary Health Diet im 21. Jahrhundert auch gegen ihre ärgsten Feinde behaupten wird.
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder
Vergleichende Kulturwissenschaft, Universität Regensburg
Dieser Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 03/2025 des Wissenschaftsmagazins "DGEwissen".
Literatur:
Graf J, Lucht K, Lütten J: Die Wiederkehr der Klassen. Theorien, Analysen, Kontroversen. Campus Verlag, Frankfurt (2022)
Hirschfelder G: Wer bestimmt was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart (2022)
Weitere Informationen:
62. Wissenschaftlicher DGE-Kongress vom 12.-14. März 2025, Kongress Palais Kassel in Kooperation mit dem Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg