Auswirkung von Digitalisierung auf Ernährungsverhalten
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf Ernährungsverhalten und -beratung aus?
DGE-Arbeitstagung in Bonn am 3./4. September 2019
Die Entwicklung der mobilen Technologien verläuft rasant und die ständige Erreichbarkeit über das Smartphone gehört bei vielen zum Alltag. Welche neuen Chancen und Wege das auch für die Ernährungserhebung, Verhaltensänderung und die Ernährungsberatung eröffnet, thematisiert die diesjährige Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) „Ernährungsberatung und Ernährungsverhalten im digitalen Zeitalter“. Der erste Tag widmet sich unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Britta Renner, Universität Konstanz und Sprecherin der DGE-Fachgruppe Ernährungsverhaltensforschung, schwerpunktmäßig dem Ernährungsverhalten. „Die neuen mobilen Technologien liefern nicht nur „mehr“ Daten, sondern auch qualitativ „andere“ Daten. Die Digitalisierung bietet uns die große Chance, Interventionen zu Verhaltensänderungen gezielter auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzer und spezifischen Esssituationen anzupassen“, sagt Prof. Dr. Britta Renner. Den Themenschwerpunkt „Ernährungsberatung „Always on“ – Individuell, interaktiv, vernetzt“ am Folgetag leitet Prof. Dr. Christine Brombach, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Sprecherin der DGE-Fachgruppe Ernährungsberatung. Die rund 330 Teilnehmer, überwiegend Ernährungsexperten aus Wissenschaft, Kommunikation und Beratung, erfahren anhand von Beispielen aus der Praxis, wie sie die Digitalisierung für ihre Arbeit nutzen können.
Mit der gemeinsamen Web-App „BERTA-INTERAKTIV“ können die Teilnehmer der Bonner Ernährungstage sich aktiv an der Arbeitstagung und am BZfE-Forum, das am 5. September stattfindet, beteiligen, mitdiskutieren und abstimmen. Die App bietet u. a. Infos zu den Referenten und ihren Vorträgen. Über #dge19 und #BERTA19 kann der Arbeitstagung auf Twitter gefolgt werden. Franziska W. Schwarz erstellt als Graphic Recorder online ein visuelles Protokoll der Tagungsvorträge.
Mit Apps zu einer gesundheitsfördernden Ernährung?
Durch chronische Krankheiten einschließlich Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislauf-Krankheiten entstehen 80 % der Gesundheitsausgaben in Europa. Dass die reine Informationsweitergabe für die wirksame Prävention ernährungsmitbedingter Krankheiten nicht ausreicht, erkennen Verantwortliche in der Gesundheitsbranche mehr und mehr an. Pilvikki Absetz, Professorin für Gesundheitsförderung an der Universität Ostfinnland, hinterfragt, ob die digitale Verhaltensintervention mit über 300 000 Gesundheits-, Fitness- und Lifestyle-Apps eine Lösung für dieses Dilemma sein kann. Sie weist darauf hin, dass Apps nur dann zu nachhaltigen Verhaltensänderungen führen, wenn sie von Funktionen begleitet werden, die dem Einzelnen helfen, die Änderung in die Praxis umzusetzen. Anforderungen an eine App für wirksame Verhaltensänderungen sind z. B. Zielsetzung, Aktionsplanung, Peer-Unterstützung und/oder Feedback. Als positive Fallbeispiele stellt Pilvikki die Ernährungscoaching-App MealLogger und eine App für einen gesunden Lebensstil BitHabit, vor.
Auch Michael Quarshie, Firmengründer MealLogger, betont, dass die weite Verbreitung von Smartphones ein großes Potenzial für digitales Ernährungscoaching bietet. Er stellt die Ergebnisse der App MealLogger, die evidenzbasierte Coaching-Strategien und -techniken einsetzt, vor. Um die Veränderung des Lebensstils mit einem ganzheitlichen Ansatz weiter voranzutreiben, können andere Apps das Ernährungscoaching ergänzen. In Fallbeispielen zeigt Quarshie MealLogger als eigenständigen Dienst und Teil eines digitalen Systems wie beispielsweise für eine Kooperation mit dem finnischen Ministerium für Soziales und Gesundheit.
In seinem Vortrag „Ernährungspolitik neu denken: Verhältnis- und Verhaltensprävention im (post?)digitalen Zeitalter“ stellt Prof. Dr. Achim Spiller, Georg-August-Universität Göttingen, die These auf, dass wir eine staatliche Informationsinfrastruktur brauchen. Apps haben nur dann das Potenzial, für den Durchbruch in der Verbrauchertransparenz und -information, wenn der Staat dafür sorgt, dass bestimmte Grunddaten wie Nährwerte, Klimawerte, Tierschutzinfos bereitgestellt werden.
Was kann Ernährungsberatung und -kommunikation von Bloggern und Social Influencern lernen?
Prof. Dr. Christine Brombach zeichnet die Historie der Ernährungsberatung nach. Die bislang klassische Ernährungsberatung wird zunehmend von Nichtexperten wie Social Influencern und selbst ernannten Experten durchgeführt. Dass die sozialen Medien Menschen erfolgreich mit dem Thema Essen und Ernährung erreichen, stellen auch Ernährungsprofis zunehmend fest. Was Stil und Themen angeht, scheinen Blogger, Instagrammer und Youtuber den Geschmack der Nutzer besser zu treffen als Institutionen und Fachleute mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit. In ihrem Praxisvortrag „Klicks, Likes und Foodporn: Was geht in den sozialen Medien?“ stellt die Wissenschaftsjournalistin Johanna Bayer Beispiele erfolgreicher Blogger und Influencer vor, analysiert diese und erläutert Leitfragen, die das eigene Profil schärfen. Dr. Franziska W. Schwarz, SciViSto, Potsdam, ergänzt, dass die Visualisierung ein wichtiger Aspekt in der Ernährungsberatung ist. Die Unternehmerin, die als zeichnende Naturwissenschaftlerin unterwegs ist, weist darauf hin, dass der Beratungsprozess durch Formatwechsel und den gezielten Einsatz guter visueller Mittel interessanter sowie nachhaltiger und verständlicher gestaltet werden kann.
Die DGE-Arbeitstagung findet im Rahmen der dritten Bonner Ernährungstage statt, die DGE und BZfE gemeinsam veranstalten. Im Anschluss an die Fachvorträge diskutieren Experten beider Veranstaltungen Prof. Dr. Christine Brombach, Eva Zovko, BZfE, und Heidi Kupke, CAI Online Coach im Bonner Ernährungstalk zu digitaler Ernährungsberatung per App, Chat und Track darüber, welche verschiedenen Herausforderungen und Perspektiven diese bietet und was dies für die Qualität der Beratung bedeutet.
Die Sonderausstellung „SEHEN, SCHMECKEN, ENTDECKEN: FORSCHUNG ERLEBEN“ präsentiert Forschungsvorhaben, die das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) fördert. Hier können Teilnehmer direkt mit Wissenschaftlern ins Gespräch kommen und verschiedene Lebensmittel verkosten.