62. DGE-Kongress zum Einfluss von Kultur und Biologie auf die Lebensmittelauswahl

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Beim 62. Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) in Kooperation mit dem Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg steht diese Frage im Fokus. Unter der Leitung von Prof. Dr. Gabriele Stangl, Prof. Dr. Andrea Henze und Prof. Dr. Wim Wätjen diskutieren über 600 Wissenschaftler*innen, Nachwuchsforscher*innen und Ernährungsfachkräfte vom 12.-14. März 2025 in Kassel die Faktoren, die unsere Lebensmittelauswahl prägen und Lösungsansätze, wie ernährungsassoziierten Erkrankungen wie Übergewicht vorgebeugt werden können. Der 2 ½-tägige Kongress bietet knapp 200 Vorträge und Poster zu aktuellen Forschungsergebnissen, Symposien der DGE-Fachgruppen und Arbeitsgruppen sowie aus den Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften und angrenzenden Disziplinen. Die Symposien greifen aktuelle Themen wie u. a. Kinderernährung (40 Jahre DONALD-Studie), die Ergebnisse der dritten Bayerischen Verzehrsstudie, Nahrungsergänzungsmittel im Sport, die Appetitregulation, den Bürgerrat Ernährung oder die Fragen „Macht Krankenhausessen krank?“ und „Proteine auf dem Teller – welche werden wir zukünftig essen?“ auf. Die Fachgruppe Early Career Scientists präsentiert ihren 6. Science Slam. Zwei Plenarvorträge beleuchten den Einfluss von Kultur und Biologie auf die Lebensmittelauswahl. Die abschließende Diskussionsrunde vertieft das Kongressthema und nimmt insbesondere die Herausforderungen in den Blick.
Planetary Health Food unter Realitätsschock
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder referiert zum Thema „Planetary Health Food unter Realitätsschock“. ©Foto: Christian Augustin
Der Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg weist darauf hin, dass die deutsche Gesellschaft heute vielfältiger denn je ist, und Ernährungsstile zunehmend der Identitätsbildung dienen. Für viele Menschen – etwa Geflüchtete aus dem arabischen Raum oder Migrierte aus Osteuropa – ist die traditionelle Ernährung ihrer Herkunft ein wichtiger Anker. Wer unter finanziellen Einschränkungen lebt, orientiert sich eher am Preis als an Ernährungsempfehlungen, die oft als elitär wahrgenommen werden. Selbst in wohlhabenden Kreisen zeigt sich ein Widerspruch: Während Nachhaltigkeit ein großes Thema ist, wächst der ökologische Fußabdruck mit steigendem Einkommen. Hirschfelder schlussfolgert, dass eine nachhaltigere pflanzenbasierte Ernährung zielgruppenorientiert und auf neuen Kanälen kommuniziert werden muss, um akzeptiert zu werden. Nur mit einer breiten politischen Unterstützung könne sie sich als tragfähiges Modell für die Zukunft etablieren.
Neue Einblicke in die Steuerung des Essverhaltens: Die Rolle von Ghrelin und neuronalen Netzwerken
Den Mechanismen, die unser Hungergefühl steuern, widmet sich die Neurobiologin und Professorin für Neuroendokrinologie an der Universität Göteborg in Schweden, Suzanne Dickson. Wie unser Gehirn die Nahrungsaufnahme steuert ist ein hochkomplexer Prozess, der sowohl physiologische, als auch umweltbedingte Signale beinhaltet. Ein Schlüsselhormon ist dabei Ghrelin, das nicht nur bei Hunger freigesetzt wird, sondern auch, wenn wir Essen erwarten oder appetitliche Speisen sehen. Dieses Hormon beeinflusst neuronale Netzwerke, die für das Belohnungssystem und die Regulation des Essverhaltens entscheidend sind. Mit modernsten Verfahren, wie der „Fos-TRAP“-Technologie und der RNA-scope-Analyse lassen sich diese Netzwerke gezielt untersuchen. So können Wissenschaftler*innen herausfinden, welche Nervenzellen auf Hungerreize reagieren und welche Rolle sie im komplexen Zusammenspiel der Nahrungsaufnahme spielen. Dickson stellt neueste Forschungsergebnisse vor, die helfen, Mechanismen der Gewichtskontrolle und mögliche Therapieansätze besser zu verstehen.
Ernährungsverhalten in Deutschland – Strategien für 2040
In der abschließenden Diskussion beleuchten Expert*innen aus Politik, Ernährungspsychologie und Ernährungsmedizin entscheidende Faktoren, die unsere Lebensmittelauswahl beeinflussen: Was braucht es, um das Ernährungsverhalten zu verbessern? Was ist wirksam, was ist realistisch? Wie tauglich sind Veränderungen der Ernährungsumgebung tatsächlich? Eva Bell, Abteilungsleiterin Ernährung und Gesundheitlicher Verbraucherschutz im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zeigt u. a. am Beispiel aktueller Maßnahmen der Ernährungsstrategie, welchen Beitrag die Politik zur gesünderen Lebensmittelauswahl leisten kann. Prof. Dr. Britta Renner, DGE-Vizepräsidentin, nimmt psychologische Aspekte bei der Lebensmittelauswahl unter der Leitfrage „Warum entscheiden wir uns nicht für das gesündere Essen?“ in den Blick. Prof. Dr. Hans Hauner, Mitglied im Wissenschaftlichen Präsidium der DGE, beschäftigt sich mit Strategien, um die Adipositas-Epidemie in den Griff zu bekommen.