Kapitel 2
Ernährungssituation von Seniorinnen und Senioren mit Pflegebedarf in Privathaushalten (ErnSiPP-Studie)
Vorgestellt werden hier die Ergebnisse der 2010 durchgeführten ErnSIPP-Studie (Ernährungssituation von Seniorinnen und Senioren mit Pflegebedarf in Privathaushalten). Mit dieser Studie wurde erstmals die Ernährungssituation von (meist) hochbetagten Senioren und Seniorinnen untersucht, die in Privathaushalten gepflegt und versorgt werden.
Hintergrund
Die Altersstruktur in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. Schon heute sind knapp 17 Millionen Menschen in Deutschland mindestens 65 Jahre alt. Im Jahr 2050 werden etwa 10 Millionen Menschen 80 Jahre und älter sein. Diese Hochbetagten werden wie auch heute schon den höchsten Bedarf an medizinischen und pflegerischen Versorgungsleistungen haben. Bisher werden etwa zwei Drittel aller Pflegebedürftigen durch ihre Angehörigen sowie ein Drittel teilweise oder vollständig durch ambulante Pflegedienste betreut. Zukünftig wird der Bedarf an Pflegepersonal deutlich anwachsen.
Dass die Ernährung den Gesundheitszustand wesentlich beeinflusst, ist hinreichend bekannt. Über den tatsächlichen Ernährungszustand von Seniorinnen und Senioren, die in Privathaushalten gepflegt und versorgt werden, fehlten jedoch bisher aussagekräftige Daten. Die vorliegenden Daten zur Ernährung von Älteren betreffen entweder die zuhause lebenden oder in Pflegeheimen betreuten Senioren. Zur Einschätzung der Ernährungssituation von selbstständig im Privathaushalt lebenden Senioren wurde die Studie „Ernährung ab 65“ durchgeführt, über die im Ernährungsbericht 2000 berichtet wurde. Sie machte deutlich, dass die Gesundheits- und Ernährungssituation von selbstständig zuhause lebenden Senioren sich nicht wesentlich von der Gruppe jüngerer Erwachsener unterscheidet und somit nicht als kritisch einzustufen ist.
Der Ernährungsbericht 2008 präsentierte dann Ergebnisse der ErnSTESStudie (Ernährung in stationären Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren), die die Ernährungssituation von pflegebedürftigen Heimbewohnern untersuchte. Diese Daten zeigten, dass bei den Bewohnern neben Appetitlosigkeit vor allem Kau- und Schluckbeschwerden weit verbreitet waren. Bei insgesamt 11 % dieser untersuchten Personen wurde eine Mangelernährung festgestellt, bei 48 % ein Risiko für eine Mangelernährung. Bei der Versorgung mit verschiedenen Nährstoffen lagen die Zufuhrmengen vor allem von Vitamin D, E und C sowie von Folat, Calcium und Magnesium deutlich unterhalb der D-A-CH-Referenzwerte.
Die bisher vorliegenden Daten über den Ernährungszustand von ambulant gepflegten Seniorinnen und Senioren basieren auf Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK). Dabei gibt es Hinweise darauf, dass die Qualitätsanforderungen für die Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung häufig nicht erfüllt sind. Daten über den Ernährungszustand pflegebedürftiger Senioren, die zuhause ausschließlich durch Angehörige versorgt werden, fehlten jedoch bisher.
Das Ziel der ErnSIPP-Studie war daher eine umfassende Untersuchung der Ernährungssituation von älteren pflegebedürftigen Menschen im Privathaushalt. Dabei sollten
- der Ernährungszustand,
- der Lebensmittelverzehr,
- die Nährstoffzufuhr,
- wichtige gesundheitliche, soziale und kognitive Einflussfaktoren auf die Ernährung,
- strukturelle Faktoren (z. B. Versorgungssystem) sowie
- Ernährungs- und Pflegekenntnisse der Pflegepersonen
erfasst und beurteilt werden. Diese Erkenntnisse sollen dazu dienen, Empfehlungen zur Verbesserung der Ernährungssituation älterer Menschen in der häuslichen Pflege abzuleiten.
Methoden
Das Studiendesign bestand aus einer ernährungsepidemiologischen Multicenterstudie, die als Kooperationsprojekt des Instituts für Biomedizin des Alterns an der Universität ErlangenNürnberg, des Instituts für Ernährungsund Lebensmittelwissenschaften der Universität Bonn und des Instituts für Ernährung, Konsum und Gesundheit der Universität Paderborn durchgeführt wurde. Die Zielpopulation waren pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren, die im Privathaushalt leben und durch Angehörige und/oder ambulante Pflegedienste versorgt werden. Als weitere Einschlusskriterien für die Studienteilnahme galten ein Alter von mindestens 65 Jahren, eine Pflegestufe nach SGB XI sowie ein nicht präfinaler Zustand. Über die Rekrutierung der Studienteilnehmer, den Ablauf und den Inhalt der Erhebungen informiert Abbildung 1.
Die Rekrutierung der Teilnehmer war aufgrund der schweren Erreichbarkeit der Zielgruppe und der geringen Teilnahmebereitschaft sehr aufwendig. Nur ein geringer Teil der im Rahmen der MDK-Pflegebedarfsbegutachtungen angesprochenen Personen war bereit, an der Studie teilzunehmen. Von 700 angeschriebenen Personen beteiligten sich beispielsweise nur etwa 3 % an der Studie. Durch die sehr hohe zeitliche Auslastung waren ambulante Pflegedienste nur selten als Rekrutierungspartner zu gewinnen.
Die Erfahrungen mit Tagespflegen waren dagegen positiv, sodass pflegebedürftige Personen, die eine Tagespflege besuchen, verglichen mit der Gesamtbevölkerung in der Studienpopulation etwas überrepräsentiert sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die teilnehmenden Probanden oder deren Pfleger eher gesundheitsoder ernährungsbewusst waren. Methodisch erfolgte die Durchführung der Studie eng angelehnt an die vorangegangenen Untersuchungen ErnSTES und „Ernährung ab 65
Ergebnisse
An der Erhebung nahmen 353 Pflegebedürftige teil, davon 148 in Bonn, 103 in Nürnberg und 102 in Paderborn. Insgesamt waren 128 Männer und 225 Frauen an der Studie beteiligt. Die männlichen Probanden waren im Mittel jünger als die weiblichen. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren die Studienteilnehmer im Mittel seit 15 Monaten pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. 58,9 % der Seniorinnen und Senioren erhielten Leistungen der Pflegestufe I, 29,7 % der Pflegestufe II und 11,3 % der Pflegestufe III. Knapp 61 % der Probanden wurden anhand des Barthel-Index, einem Parameter zur Bestimmung des Hilfebedarfs, als leicht pflegebedürftig und jeweils etwa 20 % als mäßig bzw. schwer pflegebedürftig eingestuft. Etwa die Hälfte wurde überwiegend privat und knapp 7 % wurden überwiegend ambulant gepflegt.
Der Gesundheitszustand der Studienteilnehmer stellte sich folgendermaßen dar: Unter den Probanden waren vor allem Herz-KreislaufKrankheiten (Hypertonie, Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen, koronare Herzkrankheit) sowie Gelenkkrankheiten (Arthritis, Arthrose) und Stoffwechselstörungen (Diabetes mellitus, Lipidämien und Hyperurikämie) weit verbreitet. Bei über einem Drittel der Studienteilnehmer lag laut Aussage der Pflegeperson oder laut eigener Aussage eine Demenz vor. Knapp ein Drittel der Befragten litt unter Depressionen. Wie zu erwarten, war ein Großteil der untersuchten Personen funktionell eingeschränkt. So konnte mehr als die Hälfte der Betroffenen keine 50 Meter weit gehen, jeweils ein Drittel war geistig oder psychisch beeinträchtigt. Bei der subjektiven Einschätzung des Gesundheitszustands schätzten knapp 16 % diesen als sehr gut oder gut, knapp die Hälfte als mittel und etwa ein Drittel als schlecht ein.
Die pflegerische Versorgung wurde überwiegend von weiblichen Pflegepersonen übernommen. In der vorliegenden Studie sind pflegende Lebenspartnerinnen besonders häufig vertreten, was auch das relativ hohe Alter der Pflegenden erklärt. Das Durchschnittsalter der pflegenden Frauen betrug 60, das der Männer 68 Jahre.
Bei der Abfrage des Ernährungswissens der Pflegepersonen in Bezug auf die Ernährung älterer Personen schätzten 40 % ihr Wissen als mittel und jeweils etwa 20 % ihr Wissen als gering oder hoch ein. Die Frage, ob beim Essen auf die Verzehrmenge der Pflegebedürftigen geachtet wird, bejahten die Pflegepersonen zu fast 90 %.
Die Ernährungsversorgung wurde überwiegend von den Angehörigen geleistet. Diese erledigten bei 87 % der Teilnehmer Einkäufe und bereiteten bei über 70 % die Mahlzeiten zu. Fast alle Studienteilnehmer (94,4 %) nahmen mindestens eine warme Mahlzeit pro Tag ein. Etwa zwei Drittel der Teilnehmer aßen überwiegend in Gesellschaft. Bei Personen mit Pflegestufe III war bei der Mahlzeiteneinnahme immer eine Person anwesend. Die Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen bezogen auf die Versorgung mit Lebensmitteln nahm mit zunehmender Pflegestufe ab. Insgesamt waren die Seniorinnen bei der Nahrungszufuhr häufiger selbstständig als die männlichen Teilnehmer der Studie. Hilfe benötigten die Frauen besonders häufig beim Öffnen von Getränken, die Männer vor allem beim Klein schneiden von Speisen. Die an Demenz erkrankten Senioren waren im Vergleich zu den nicht dementen häufiger völlig hilfebedürftig. Das betraf die Aufforderung zum Essen und Trinken, das Klein schneiden der Nahrung sowie das Anreichen von Speisen und Getränken.
Die meisten Studienteilnehmer gaben an, dass die Ernährung im Tagesablauf einen sehr hohen Stellenwert einnimmt, lediglich für einen geringen Teil der Befragten war die Ernährung unwichtig. Insgesamt waren die meisten Personen mit ihrer derzeitigen Ernährungssituation zufrieden oder sehr zufrieden. Vorlieben und Abneigungen für bestimmte Speisen und Getränke wurden von den Seniorinnen und Senioren gegenüber der jeweiligen Pflegeperson geäußert und von dieser in der Regel umgesetzt.
Der Ernährungszustand der Probanden wurde mittels verschiedener Methoden ermittelt. Dazu zählten anthropometrische Messungen (BMI, Wadenumfang, Oberarmumfang), Fragen zu Gewichtsveränderungen und Mini Nutritional Assessment (MNA®).
Der berechnete BMI (Body Mass Index) lag mit 28,2 ± 6,2 relativ hoch. Etwa ein Drittel der Probanden hatte einen BMI von ≥ 30, 12 % sogar ≥ 35. Lediglich 4 % der Senioren hatten einen BMI unter 20. Da bereits 59 % der Teilnehmer durch die Pflegebedürftigkeit an Gewicht abgenommen hatten und 27 % von einem Gewichtsverlust in den vergangenen Monaten berichteten, deutet dies – vor allem durch die infolge von Inaktivität abgebaute Muskelmasse – auf ein erhöhtes Risiko für funktionelle Einschränkungen und Gebrechlichkeit hin. Mit zunehmender Pflegestufe nahm der BMI ab, bei an Demenz erkrankten Probanden war der BMI signifikant niedriger als bei nicht dementen Studienteilnehmern.
Bei beiden Geschlechtern zeigte sich mit zunehmendem Alter ein signifikanter Rückgang des Wadenumfangs. Dabei wurden keine geschlechtsspezifischen Unterschiede beobachtet. Die mittlere Trizepshautfaltendicke, die das Unterhautfettgewebe des Oberarms reflektiert, war bei den Männern signifikant niedriger als bei den Frauen. Frauen > 85 Jahre wiesen eine auffällig niedrige Trizepshautfaltendicke im Vergleich zu den jüngeren Teilnehmerinnen auf.
Das MNA® erfasste neben den anthropometrischen Messungen auch Ernährungsgewohnheiten sowie verschiedene häufige Altersphänomene wie Immobilität, kognitive Beeinträchtigungen oder multiple Medikamenteneinnahmen. Im Ergebnis wiesen nur 29,3 % der Teilnehmer einen normalen Ernährungszustand auf, weitere 57,4 % hatten ein Risiko für eine Mangelernährung und bei 13,4 % lag bereits eine Mangelernährung vor. Dabei wurden zwischen den Geschlechtern keine Unterschiede ersichtlich. Beim Betrachten der MNA®-Ergebnisse in Bezug zur jeweiligen Pflegestufe wurde deutlich, dass mit steigender Pflegestufe der Anteil der Personen mit Mangelernährung signifikant zunahm.
Ernährungsprobleme waren unter den Probanden weit verbreitet. So litten 51,8 % an Kaubeschwerden, die besonders beim Verzehr harter Lebensmittel auftraten. 28,3 % der Teilnehmer litten an Schluckbeschwerden. Eine weitere Beobachtung war der nachlassende Appetit. Etwa ein Drittel der Seniorinnen und Senioren gaben an, häufig bzw. gelegentlich auffällig geringe Nahrungsmengen zu sich zu nehmen. Über die Hälfte der Befragten gab zudem ein nachlassendes Durstempfinden an, was auch die Flüssigkeitszufuhr beeinflusste. Insgesamt 18,4 % der Studienteilnehmer gaben an, häufig oder gelegentlich weniger als einen halben Liter pro Tag zu trinken.
Die meisten Teilnehmer gaben an, keine besondere Diät einzuhalten. Unter den genannten Diäten war die „Diabeteskost“ am häufigsten vertreten.
Der Lebensmittelverzehr der Studienteilnehmer wurde entsprechend der Auswertung des 3-Tage-Verzehrprotokolls (siehe Abbildung 1) bestimmt und entsprach in etwa dem anderer Seniorengruppen und dem der jüngeren Bevölkerung in Deutschland. Verglichen mit den DGE-Orientierungswerten wurden zu hohe Mengen an Fleisch und Wurstwaren verzehrt (Seniorinnen verzehrten durchschnittlich 115 g, Senioren 148 g pro Tag). Diese Mengen liegen damit deutlich über den DGE-Orientierungswerten von 300 bis 600 g pro Woche. Dagegen waren die Verzehrmengen von pflanzlichen Produkten wie Gemüse, Obst, Kartoffeln und Getreideprodukten zu gering. Bei Gemüse erreichten die Seniorinnen und Senioren mit durchschnittlich 163 g bzw. 179 g pro Tag nicht einmal die Hälfte der von der DGE als Orientierungswert genannten Zufuhrmenge von mindestens 400 g pro Tag. Auch der Obstkonsum lag mit 170 g pro Tag bei den weiblichen und 171 g pro Tag bei den männlichen Probanden deutlich unter der von der DGE genannten Verzehrmenge von mindestens 250 g pro Tag. Der Verzehr von Kartoffeln lag zwar über dem Verzehr von Reis, Nudeln und Cerealien, aber mengenmäßig immer noch deutlich unter den Orientierungswerten der DGE. Ein ähnliches Bild zeichnete sich für den Verzehr von Brot ab. Auch der Fischkonsum war deutlich zu gering: Männer aßen im Schnitt 28 g und Frauen 21 g pro Tag. Hier muss jedoch bedacht werden, dass Fisch häufig nur freitags gegessen wird und der Freitag nicht bei allen Probanden protokolliert wurde.
Beim Lebensmittelverzehr insgesamt wurden – bis auf einen mit steigendem Alter nachlassenden Obstverzehr bei Männern – keine nennenswerten Altersunterschiede festgestellt.
Die mediane tägliche Energiezufuhr lag bei beiden Geschlechtern knapp unter den individuell berechneten Richtwerten. Frauen der obersten Altersgruppe wiesen tendenziell die geringste Energiezufuhr auf. Mit zunehmender Pflegestufe zeigte sich bei Frauen ein Rückgang der Energiezufuhr und damit verbunden eine signifikant niedrigere Zufuhr zahlreicher Nährstoffe. Bei den Männern nahm die Energiezufuhr zwar tendenziell mit Höhe der Pflegestufe ebenfalls ab, diese Veränderung war jedoch nicht signifikant.
Mit rund 38 % lag der Fettanteil in der Ernährung deutlich über dem Richtwert von 30 En%, was sich durch die Wahl der Lebensmittel erklären lässt. Ebenfalls zu hoch war die tägliche Proteinzufuhr, die bei Männern über 80 g und bei Frauen knapp 70 g pro Tag betrug. Bezogen auf das Körpergewicht lag die mediane Proteinzufuhr mit 1 g Protein/kg Körpergewicht damit bei beiden Geschlechtern über der empfohlenen Zufuhrmenge von 0,8 g/kg Körpergewicht. Betrachtet man jedoch die individuelle Erfüllung des Referenzwerts für Protein, so erreichten sowohl etwa 25 % der Männer als auch der Frauen nicht die empfohlene Zufuhrmenge für Protein.
Bei der Zufuhr von Kohlenhydraten erreichten 75,6 % der Männer und 76,1 % der Frauen nicht den Richtwert von mindestens 50 En%. Knapp die Hälfte der verzehrten Kohlenhydrate stammte aus Mono- und Disacchariden. Auch die Zufuhr der Ballaststoffe lag mit 19,6 g pro Tag bei den Männern und 17,4 g pro Tag bei den Frauen deutlich unterhalb des D-A-CH-Referenzwertes von mindestens 30 g Ballaststoffen pro Tag.
Bei den meisten untersuchten Vitaminen und Mineralstoffen erreichten die medianen Zufuhrwerte aus Lebensmitteln die D-A-CH-Referenzwerte. Lediglich bei Vitamin D, Vitamin E, Folat und Calcium wurden die Referenzwerte im Mittel bei beiden Geschlechtern unterschritten. Besonders gering war sowohl bei Männern als auch Frauen mit etwa 2 µg die tägliche Vitamin D-Zufuhr. Bei den Seniorinnen wurden im Mittel auch die empfohlenen Zufuhrmengen von Thiamin und Vitamin C knapp nicht erreicht.
Die Einnahme von Supplementen spielte bei vielen Probanden eine Rolle. Von den 353 Teilnehmern nahmen 29,7 % Vitamine und 39,1 % Mineralstoffe in Form von Nahrungsergänzungsmitteln ein. Am häufigsten wurden Magnesium-, Calcium-, Vitamin D- sowie Vitamin B-Präparate supplementiert.
Der Vergleich der Pflegearten (ambulante Pflege oder Pflege durch Angehörige) ergab keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Energieoder Nährstoffversorgung. Lediglich das Vorliegen einer Demenz bei Frauen beeinflusste die Nährstoffversorgung. Im Vergleich zu nicht dementen Seniorinnen nahmen demenzkranke Frauen im Mittel weniger Wasser, Folat, Natrium, Calcium und Magnesium auf. Die Proteinmenge war dagegen bei den an Demenz erkrankten Seniorinnen höher. Bei den Männern ergaben sich keine signifikanten Unterschiede.
Empfehlungen zur Verbesserung der Ernährungssituation
Auch im Alter und bei Pflegebedürftigkeit ist eine bedarfsgerechte Ernährung Voraussetzung für einen guten Ernährungszustand. Oberstes Ziel ist es, möglichst lange die Selbstständigkeit und Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten. Dazu ist es notwendig, das Eintreten körperlicher Funktionsstörungen zu verhindern oder zu verzögern.
Die vielen verschiedenen physiologischen Alterungsprozesse erhöhen das Risiko für eine Fehlernährung. Dies kann sich zum einen darin zeigen, dass durch den abnehmenden Energiebedarf Übergewicht entsteht. Andererseits können körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigungen auch dazu führen, dass die Nahrungs- und Getränkezufuhr eingeschränkt wird, was sich in einer Mangelernährung manifestiert. Vor allem einer möglichen Dehydratation im Alter kann vorbeugend entgegengewirkt werden. Daher sollte die Ernährung pflegebedürftiger Seniorinnen und Senioren im Privathaushalt grundsätzlich eine besondere Aufmerksamkeit erhalten.
Die hier vorgestellte ErnSIPP-Studie macht deutlich, dass die pflegebedürftigen Senioren sowohl Übergewicht als auch ein hohes Risiko für Mangelernährung aufweisen können. Da eine Gewichtsabnahme im hohen Alter kritisch zu bewerten ist, sollte bei einem hohen BMI der Fokus primär auf der Gewichtsstabilisierung liegen. Eine Gewichtsabnahme sollte nur bei medizinischer Notwendigkeit und gleichzeitiger körperlicher Aktivität erfolgen, um einer unerwünschten Abnahme an Muskelmasse entgegenzuwirken. Bei vorliegender Mangelernährung oder einem Risiko für Mangelernährung und/oder Dehydratation ist insbesondere auf eine reichliche Ess- und Trinkmenge zu achten, um die Nährstoffversorgung sicherzustellen. Auch wenn die vorliegende Studie im Mittel eine recht gute Versorgung mit Nährstoffen zeigt, wurden bei einzelnen Personen teilweise erhebliche Defizite hinsichtlich der Bedarfsdeckung festgestellt.
Für den altersbedingt geringeren Energiebedarf bei gleichzeitig unverändertem Protein-, Vitamin- und Mineralstoffbedarf sind möglichst Lebensmittel mit hoher Nährstoffdichte wie Gemüse, Obst und Vollkornprodukte zu wählen. Diese enthalten bezogen auf ihren Energiegehalt einen hohen Anteil an Nährstoffen wie Protein, Vitamine, Mineralstoffe und Ballaststoffe. Durch die Verwendung hochwertiger Pflanzenöle ließe sich auch die Vitamin E-Versorgung verbessern. Der Nährstoffgehalt von Speisen kann auch durch unsachgemäße Lagerung und Zubereitung von Lebensmitteln beeinflusst werden. Daher sollten beispielsweise langes Warmhalten oder das Wässern von Kartoffeln oder Gemüse vermieden werden.
Die Versorgung mit Vitamin D sollte besonders beachtet werden. Denn die mit dem Alter nachlassende körpereigene Produktion in Kombination mit weniger Sonnenlichtexposition und einer geringen Zufuhr über Speisen kann eine Supplementierung von Vitamin D erforderlich machen.
Beim Thema Essen spielt aber nicht nur die Qualität eine wichtige Rolle, sondern auch die Darreichungsform. Gerade bei nachlassendem Appetit sind Geschmack und Aussehen entscheidend für die Akzeptanz von Speisen. Hier kann beispielsweise das Würzen mit Kräutern hilfreich sein. Ein gutes Aussehen ist auch für die Mahlzeiten wichtig, die infolge von Kau- und Schluckbeschwerden teilweise püriert angeboten werden müssen. Hierbei ist zudem auf die richtige Konsistenz der Speisen zu achten.
Ein wichtiger Schritt, um die genannten Empfehlungen zu den Pflegenden zu transportieren, ist die Verbesserung und Ausweitung von Informations-, Beratungs- und Kursangeboten. Insbesondere Krankenkassen, Hausärzte und Pflegeberatungsstellen, aber auch andere Institutionen wie Kirchengemeinden oder Volkshochschulen sind gefragt, hier als Multiplikatoren zu wirken. Ziel muss sein, die zu pflegenden Personen, aber auch deren Angehörige mit den Grundlagen der vollwertigen Ernährung im Alter vertraut zu machen. Zudem sollten diese in der Lage sein, auftretende Ernährungsprobleme frühzeitig zu erkennen. Gegebenenfalls müssen sie Informationen über mögliche Maßnahmen und eine fachkundige Beratung erhalten können. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn Männer die Pflegenden sind und die Rolle des Versorgers übernehmen müssen.
Für die frühzeitige Erkennung von Ernährungsproblemen ist neben regelmäßigen Gewichtskontrollen auch alle drei Monate ein Screening auf Mangelernährung wünschenswert. Dies kann durch den ambulanten Pflegedienst oder den Hausarzt erfolgen. Bei auffälligen Ergebnissen, wie sie hier in Form von Kau- und Schluckbeschwerden häufig beobachtet wurden, ist ein enger Austausch zwischen allen Beteiligten von großer Bedeutung. Das können der Arzt, das Pflegepersonal, die Angehörigen, aber auch der Zahnarzt und andere Therapeuten sein.
Sowohl in der Prävention als auch in der Therapie sind ambulante Ernährungsberater gefragt, den Seniorinnen und Senioren sowie deren Angehörigen und dem Pflegepersonal beratend zur Seite stehen. Sie könnten im Rahmen von Hausbesuchen eine große Unterstützung bei der Umsetzung individueller Ernährungsstrategien sein.
Das Thema „Ernährung“ sollte weiterhin besser in die Aus- und Weiterbildung von Hausärzten, ambulanten Pflegekräften und Therapeuten integriert werden. So kann neben dem Ernährungsbewusstsein der Beteiligten auch die Ernährungssituation von pflegebedürftigen Seniorinnen und Senioren im Privathaushalt verbessert werden.
Lebensmittelhersteller sind gefordert, hochwertige Gerichte zu entwickeln, die nährstoffreich und schmackhaft sind und einfach zubereitet werden können. Wichtig sind zudem leicht zu öffnende Verpackungen, denn in der vorliegenden Studie äußerte fast die Hälfte der Studienteilnehmer Hilfebedarf beim Öffnen von Getränken.
Eine Ausweitung verschiedener Dienstleistungen wie die Unterstützung durch Einkaufs- oder Kochhilfen, Lebensmittellieferdienste, aber auch Paten für die Gesellschaft bei Mahlzeiten könnten die Ernährungsversorgung von Pflegebedürftigen zukünftig erleichtern. Dies ist umso wichtiger, als sich durch die starke Zunahme hochbetagter Menschen voraussichtlich auch die Zahl der Pflegebedürftigen weiter erhöhen wird. Da die Pflege und Versorgung zuhause meist mit einer höheren Zufriedenheit und größerem Wohlbefinden verbunden ist als der Aufenthalt in einer Pflegeeinrichtung, sollten diese bestmöglich gefördert werden. Dazu kann eine gut organisierte und hochwertige Ernährungsversorgung ganz wesentlich beitragen.
Fazit
Pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren in Privathaushalten für die Teilnahme an der ErnSIPP-Studie zu gewinnen, war relativ aufwendig. Die teilnehmenden Personen waren in der Regel multimorbide und funktionell eingeschränkt. Bei fast allen Probanden waren überwiegend Angehörige an der Pflege beteiligt; rund die Hälfte der Pflegebedürftigen wurde durch einen ambulanten Pflegedienst unterstützt. Nach eigenen Einschätzungen waren sowohl die Pflege- als auch die Ernährungskenntnisse der Pflegepersonen relativ gut.
Die meisten der an der Studie teilnehmenden Seniorinnen und Senioren erhielten bei der Versorgung mit Lebensmitteln und den Mahlzeiten Unterstützung, die primär durch die Familie gewährleistet wurde. Bei Ernährungsproblemen wurde in dem untersuchten Kollektiv besonders häufig von Kau- und Schluckbeschwerden berichtet. Auch wenn unter den Teilnehmern ein hoher BMI weit verbreitet war, wies ein Großteil der Personen zahlreiche Risikofaktoren für die Entstehung einer Mangelernährung auf. Dies lässt sich durch die Pflegebedürftigkeit und das häufige Vorkommen akuter und chronischer Krankheiten bei den Studienteilnehmern erklären.
Die Lebensmittelauswahl entsprach weitestgehend der anderer Bevölkerungsgruppen und war durch einen zu hohen Anteil an Fleisch und Wurstwaren sowie einen zu niedrigen Anteil pflanzlicher Produkte in der Ernährung gekennzeichnet. Im Vergleich zu Daten von Pflegeheimbewohnern war der Verzehr von Gemüse und Obst jedoch deutlich höher.
Die Energiezufuhr lag knapp unter dem geschätzten Bedarf des Einzelnen und genau zwischen dem noch selbstständiger Senioren und Pflegeheimbewohnern. Bei den meisten Nährstoffen erreichten die Studienteilnehmer die Referenzwerte. Ausnahmen waren die Vitamine D und E, Folat, Calcium und Ballaststoffe. Bei den Frauen lag zusätzlich die Vitamin C- und Thiaminzufuhr unter der empfohlenen Zufuhr. Auch wenn im Mittel die Nährstoffversorgung gut war, gab es große individuelle Unterschiede mit teilweise erheblichen Defiziten. Bei der Bewertung der Studienergebnisse ist nicht auszuschließen, dass sich die Ernährungssituation bei Personen, die durch größere pflegerische oder gesundheitliche Belastungen nicht an der Studie teilgenommen haben, schlechter darstellt.
Die Ernährung von pflegebedürftigen Seniorinnen und Senioren in Privathaushalten sollte zukünftig eine stärkere Aufmerksamkeit erhalten, insbesondere wenn eine schwere Pflegebedürftigkeit und/oder Demenz bestehen. Denn ein guter Ernährungszustand trägt entscheidend dazu bei, Infektionen oder andere Akutereignisse wie Krankenhausaufenthalte besser zu überstehen und die Gesundheit länger zu erhalten.